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And Love Or
Goa, Indien – 1999
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als ich mich aus dem stickigen Gästehaus auf die Straße begab.
Die kläffenden Hunde der Nacht hatten mir den Schlaf geraubt, also stieg ich kurzerhand auf meine gemietete Vespa. Ich hatte keinen Plan, keine Karte, nur den Wunsch, mich treiben zu lassen – fort von der Rastlosigkeit meiner Gedanken, hinein ins Unbekannte.
Goa war der erste Halt meiner viermonatigen Reise durch Indien – ein Projekt, das mich nicht nur auf der Suche nach Stoff für meine Diplomarbeit an der Kunst- und Medienschule führte, sondern vor allem zu mir selbst.
Die Straßen waren noch feucht vom Morgentau, der Geruch von feuchter Erde mischte sich mit dem Duft von Jasmin und Rauch. Ich fuhr an sattgrünen Reisfeldern und endlosen Reihen von Palmen vorbei, ließ die Hauptstraße hinter mir, als ich plötzlich an eine Kreuzung kam.
Ein Schild deutete nach rechts: Vasco da Gama. Der Name des portugiesischen Seefahrers, der einst diese Küsten eroberte, hallte wie ein Echo aus einer anderen Zeit.
Die Straße war überfüllt mit alten, überladenen Lastwagen, die schwarze Rauchfahnen in den Himmel stießen. Feiner Staub legte sich auf meine Haut, mischte sich mit dem Schweiß, der mir über die Stirn rann. Ich musste hier raus.
Ein schmaler Weg tauchte wie aus dem Nichts auf, führte links durch die Felder – schmal, kaum befahren, fast geheimnisvoll. Ich folgte ihm.
Plötzlich war alles still. Nur das leise Summen von Zikaden und das ferne Rauschen des Meeres begleiteten mich. Die Straße schlängelte sich an zerfallenen Kolonialvillen vorbei, ihre Gärten wucherten wild in die Landschaft, Blüten in grellen Farben rankten sich über Zäune und Mauern.
Dann – abrupt – endete die Straße. Eine hohe Mauer versperrte mir den Weg. Ich bremste scharf,
die Vespa kam mit einem Ruck zum Stehen. Was zum…?
Ein Schild am rostigen Tor offenbarte die Antwort:
Central Jail Aguada – Goa. Ich war direkt vor einem Gefängnis gelandet.
Ich parkte die Vespa, trat näher an die Mauer heran – neugierig, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen. Rechts unten, im hohen Gras, blitzte etwas Metallisches. Da lagen alte, verrostete Buchstaben – vermutlich einst Teil der Beschriftung der Anstalt, nun vom Putz gefallen, vergessen.
Ich sammelte sie ein, setzte mich auf die niedrige Mauer, die über die Klippen ragte – direkt über dem Ozean. Der Wind trug Salz und Geschichten mit sich. Ich begann, die Buchstaben spielerisch zu ordnen, wie ein Kind, das ein Rätsel löst.
Nach einer Weile lag vor mir ein Satz, unvollständig, aber bedeutungsschwer: „And L _ ve Or“
In meinem Inneren ergänzte ich den fehlenden Buchstaben sofort: ein O. Nicht ein I, nicht „Live“, sondern Love. And Love Or… – oder was? Sterben? Zerbrechen?
Ich starrte auf die rostigen Buchstaben, während die Wellen tief unten gegen die Felsen schlugen.
Der Satz wurde zum Orakel. Ich verstand plötzlich: Ohne Liebe ist der Mensch verloren.
Ohne Liebe wird der Mensch zum Schatten seiner selbst – kalt, bitter, fremd, unfähig zur Freude.
Ohne Liebe verkommt das Leben zur Strafe. Vielleicht war es kein Zufall, dass ich diese Worte an einer Gefängnismauer fand. Es war eine Botschaft.
Zurück in meiner Heimat, am Ende dieser intensiven Reise, entstaubte ich die weiße, eingegipste Plastik, ein Buch das ich einst im Studium erschaffen hatte – "Das große Buch der Philosophie". Es war leer.
Doch nun wusste ich, was hineingehörte. Ich öffnete es behutsam und legte die gefundenen Buchstaben hinein.
Dorthin, wo das „O“ fehlte, setzte ich eine rote Rose – das Symbol der Liebe das diese Geschichte abrundet.
Eine Geschichte die man nicht erfinden sondern Leben muss.


India
Ein leiser Hauch der Kälte streift durch die Wärme des Morgens – wie ein stilles Gebet, das sich in der aufgehenden Sonne verliert.
Indien atmet, in Widersprüchen geboren: voller Leben und doch im ständigen Tanz mit dem Tod.
Sie steht an der Schwelle ihrer eigenen Vergänglichkeit – nicht als Ende, sondern als Übergang.
Denn jedes Sterben ist hier auch ein Wiederbeginnen, jede Träne ein Tropfen auf dem Altar der Hoffnung.
Mit Augen, die noch die Spuren vergangener Trauer tragen, blickt sie in die Weite – erfüllt von einem Glück, das nicht laut jubelt, sondern still leuchtet.
Der Sand ihrer Wüsten trägt Geschichten von Heiligen, Asketen und Göttern, die in Tempeln aus Stein weiteratmen.
Ihre Berge flüstern Mantras, und der Ganges trägt Gebete wie Blüten auf seinen Wassern – hin zum Ozean der Ewigkeit.
Dies ist ein Land, das Schmerz kennt, aber ihn nicht fürchtet. Ein Land, das in Armut Reichtum findet,
in Leid Tiefe, in Chaos Ordnung. Ein Land, das durch das Irdische zum Himmlischen strebt, durch das Sichtbare das Unsichtbare sucht.
Das ist Indien – ein heiliger Widerspruch, ein lebendiges Mandala aus Klang, Stille, Licht und Dunkel, getragen von der Sehnsucht nach dem Unendlichen.

Malo hladna, pa opet vrela.
Puna Života, a stoji pred vratima svoje sobstvene smrti.
Puna Sreče, sa suzama u očima što još jučer ih izplakah.
Zemlja, što kroz korov i kamen se širi.
Do Zemlje bez bola i bez plača, u nadi za Vječnosti
To je Indija.
Miro 1993

Einwenig kalt und wieder warm,
Voller Leben-
und doch steht sie vor der Tür ihres eigenen Todes.
Voller Glück-
mit den Tränen in den Augen, die sie gestern noch ausgeweint hat.
Das Land, dass sich durch Stein und Wüste verbreitet,
bis zum Lande, ohne Schmerz und ohne Tränen,
in der Hoffnung nach Ewigkeit.
Das ist Indien!
Miro 1993



